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Klischeefreie Berufsorientierung - Interview mit den Projektmitarbeitenden von Pflege braucht Zukunft

RegionBurgenlandkreis
HandlungsfeldSchule und Elternarbeit
Zielgruppejunge Menschen am Übergang Schule-Beruf
Projektlaufzeit01. September 2018 - 30. Juni 2022

Berufsorientierung ist ein wichtiges Instrument am Übergang Schule-Beruf. Gut umgesetzt kann sie dazu beitragen, den Fachkräftebedarf zu decken und Ausbildungsabbrüche zu verhindern. Eine große Herausforderung dabei: Die Berufsorientierung klischeefrei zu gestalten. Junge Menschen sollten einen Ausbildungsberuf wählen, der den eigenen Wünschen und Stärken entspricht. Gesellschaftliche Erwartungen sollten dabei  keine Rolle spielen.

Mit dem Projekt „Pflege braucht Zukunft“ wird das Ziel verfolgt, die Berufsorientierung im Bereich Pflege und Gesundheit klischeefrei zu gestalten. Es handelt sich um ein Projekt im Rahmen des Landesprogramms Regionales Übergangsmanagement in Sachsen-Anhalt (RÜMSA), das im Burgenlandkreis durchgeführt wird. Im Interview mit der Landesnetzwerkstelle RÜMSA geben die Projektmitarbeiterinnen Daniela Kretzschmar und Susanne Thieme Einblick in ihren Arbeitsalltag.

Daniela Kretzschmar: Was würde denn passieren, wenn Berufsorientierung nicht klischeefrei wäre? Wir kennen das alle, die typischen Geschlechterklischees, „typische“ Frauen- und „typische“ Männerberufe. Das hat dann zur Folge, dass die Schüler*innen bestimmte Berufe gar nicht erst anschauen. Dies wiederum kann dann den Fachkräftemangel verstärken.

In unserem Projekt geht es um Pflegeberufe und Berufe im Gesundheitsbereich. Gerade die Berufe in der Pflege sind besonders klischeebehaftet. Oft wird gesagt: da geht es doch nur um Waschen und Füttern. Dem ist natürlich nicht so, hier müssen wir noch stärker Aufklärungsarbeit leisten. Des Weiteren hören wir immer wieder: Das ist ein Knochenjob, der Job macht dir den Rücken kaputt. Auch das stimmt nicht mehr. In keinem anderen Beruf wird so viel auf die Rückengesundheit geachtet.

Ein klassisches Klischee der Eltern ist: Da wirst du schlecht bezahlt! Können wir widerlegen, der Ausbildungsberuf als Pflegefachfrau/-mann wird sehr gut bezahlt, ähnlich wie die Bankkauffrau oder der Bankkaufmann. Aber der anstregende Schichtdienst! Arbeiten in Schichten hat auch positive Seiten. Und noch ein Klischee: In der Pflege kannst du dich nicht weiterentwickeln. Das stimmt natürlich so nicht, es gibt Studiengänge wie Pflegepädagogik oder Pflegemanagement. Und nicht zu vergessen das Klischee, mit dem Schüler*innen mit Migrationshintergrund konfrontiert werden: Das schaffen die doch gar nicht wegen der Sprache. Das geht nicht, wenn sie Kopftuch tragen. Das kann man nicht machen mit den Patient*innen, wenn die dann verhüllt sind. Wir haben in unserem Projekt ganz andere, positive Erfahrungen gemacht.

Uns sind ganz viele Klischees bekannt. Und die versuchen wir in unserem Projekt zum Thema zu machen. Damit Schüler*innen merken: Ja, Pflege- und Gesundheitsberufe sind Berufe, da lohnt es sich eine Ausbildung zu machen, das macht Spaß und hat einen Sinn, darin kann man sich weiterentwickeln, das ist etwas für meine Zukunft.

Susanne Thieme: Die Problematik ist, dass wir als Projektmitarbeiterinnen manchmal vor einer Wand von Vorurteilen stehen, mitunter ist das Elternhaus daran nicht ganz unschuldig. Eine große Herausforderung in den Elternversammlungen ist es, dass man die Klischees aufbricht, indem man ihnen neutral begegnet und sachlich argumentiert. Klischees sind meist tief verwurzelt und die können wir nicht mit einem Gespräch beseitigen. Aber wir können sensibilisieren und ansprechen. Interessanterweise haben wir gemerkt, dass die Schüler*innen mitunter gar nicht so vorurteilsbehaftet gegenüber der Pflege sind.

Susanne Thieme: Ganz wichtig in der Arbeit mit den Jugendlichen ist Partizipation und Dialog, sie ermuntern, sich erst einmal mit den Berufen zu beschäftigen. Und dann natürlich die bei einem selbst vorhandenen Klischees abzubauen. Wir als Projektmitarbeiterinnen müssen uns auch immer wieder entsprechend weiterbilden.

Ganz wichtig für eine klischeefreie Berufsorientierung ist auch Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit. Bilder etwa können uns unterbewusst leiten. Daher achten wir auf eine ausgewogene Darstellung, um Geschlechterklischees nicht zu bedienen. Wir verwenden auch eine genderneutrale Sprache, das ist mittlerweile schon Standard. Außerdem verwenden wir einfache Sprache, vor allem auch, um Förderschüler*innen und Schüler*innen mit schlechten Deutschkenntnissen nicht auszugrenzen. 

Daniela Kretzschmar: Wir versuchen, die Berufe neutral und umfassend darzustellen. Pflegekräfte arbeiten zum Beispiel nicht nur klassisch in der Klinik oder in Altenpflegeeinrichtungen, sondern auch im Labor oder in der Radiologie. Viele junge Menschen haben einige Berufe gar nicht auf dem Schirm oder kennen sie nicht. Nehmen wir zum Beispiel den Beruf der Bestattungsfachkraft, der ja auch zu den Gesundheits- und Pflegeberufen gehört. Das ist etwas Exotisches. Manche Berufe werden in der regulären Berufsorientierung gar nicht erwähnt und wir versuchen in unserem Projekt, die große Vielfalt von Möglichkeiten aufzuzeigen.

Susanne Thieme: Wir haben ein großes Netzwerk an Kooperationspartner*innen. Dadurch haben wir die Möglichkeit, Menschen vorzustellen, die durch ihr Wirken und ihre eigenen Erfahrungen mit den gängigen Klischees aufräumen. Zum Beispiel eine weibliche Bestatterin oder Männer, die in vermeintlich „typischen“ Frauenberufen im Bereich Pflege und Gesundheit arbeiten. Wir stellen auch Personen vor, die beispielsweise mit einem Hauptschulabschluss ins Berufsleben gestartet sind. Nun haben sie erfolgreich eine Fachausbildung absolviert. Unsere Partner*innen sehen ihr Engagement bei uns weniger als Arbeit, eher als eine Herzensangelegenheit. Nicht zuletzt weil sie wissen, wie groß der Fachkräftemangel inzwischen ist.

Was bei den jungen Menschen auch immer Eindruck hinterlässt ist der Besuch eines Betriebs bzw. einer Einrichtung. Dabei besteht die Möglichkeit, direkt vor Ort an den Patient*innen oder im Umgang mit den medizinisch-technischen Geräten gängigen Vorurteilen entgegenzutreten.

Susanne Thieme: Der weitere umfassende Abbau von Klischees und Vorurteilen Einrichtungen des Gesundheits- und Pflegewesens ist ganz wichtig. Zudem sollten wir verstärkt dafür werben, dass auch Förderschüler*innen eine Ausbildung beginnen und dann peu à peu eine Zusatzausbildung absolvieren, wenn sie das möchten. Lehrkräften in Förderschulen kommt hier eine besondere Rolle zu.

Susanne Thieme: Ich finde es wichtig, dass junge Menschen sich von gesellschaftlichen Vorurteilen lösen und sich bei ihrem Berufswunsch davon nicht beeinflussen lassen. Klischeefreie Berufsorientierung kann dabei helfen. Sie gelingt aber nur dann, wenn hierfür Offenheit besteht. Gelungen ist es nicht nur dann, wenn die Klischees abgebaut werden, sondern wenn die Jugendlichen selbst frei entscheiden, z. B. eine Ausbildung im Bereich Gesundheit und Pflege aufzunehmen – egal was die anderen sagen.

Daniela Kretzschmar: Um zum Anfang zurückzukommen: Unser Ziel ist es, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Wenn ein Beruf mit negativen Klischees behaftet ist, wird er oft nicht ergriffen. Dabei entsprechen die Klischees häufig nicht der Realität. Die Jugendlichen sollen sich trauen, in den Beruf reinzuschnuppern, ganz neutral und wertfrei. Wir möchten, dass die Jugendlichen den Beruf ergreifen, der ihren Interessen, Vorlieben und Stärken entspricht. Dass die Jugendlichen Berufe wählen, die ihnen Spaß machen, in denen sie sich wohlfühlen, in denen sie auch wertgeschätzt werden. Wo sie sich verwirklichen können, wo sie ihre Interessen und Hobbies einbringen können. Die Jugendlichen sollen durch klischeefreie Berufsorientierung gestärkt werden, ihre eigenen Interessen auszuprobieren und sich frei zu entscheiden. Und für uns ist es schön zu sehen, dass wir mit unserem Projekt dazu einen Beitrag leisten können.

Weitere Informationen zum Projekt finden Sie hier sowie auf der Homepage des Internationalen Bundes.